Ich ahne es, aber ich traue mich nicht, mich umzuschauen. Denn jede noch so kleine Bewegung, die meinen Körpermittelpunkt verschiebt, könnte in meiner momentanen Situation dazu führen, dass ich in circa zwölf Grad Celsius kaltem Wasser lande. Denn ich sitze zum ersten Mal in meinem Leben in einem 53 Zentimeter breiten und mehr als fünf Meter langen Surfski – sozusagen ein geschwindigkeitsoptimiertes Seekajak, bei dem man nicht in einer Luke, sondern lediglich in einer Art Ausbuchtung auf dem Boot sitzt. Das ganze Spektakel spielt sich auch nicht aus Spaß im Badeurlaub am Mittelmeer ab, sondern im nordschwedischen Are während der Are Extreme Challenge, dem ältesten und größten Multisport-Event Skandinaviens. Und was ich ahne ist, dass kaum noch jemand hinter mir, sondern fast alle Starter vor mir auf das erste Staffelziel am Strand von Are zu paddeln. Deshalb lasse ich das besser mit dem Umschauen mitten auf dem See und versuche stattdessen gute 45 Minuten von meinem Ziel entfernt lieber die mit jedem Paddelschlag zunehmenden stechenden Schmerzen in meiner rechten Schulter zu ignorieren. Klappt nicht. Und dann kommt auch noch Wind auf und ich lerne aufs Neue eine altbekannte Outdoor-Lektion: Es kann immer noch schlimmer kommen.
Die Schmach nochmal abgewendet
Diese Erkenntnis ist in dem Moment, in dem man sie macht, ausgesprochen demotivierend. Hinterher jedoch macht sie Erlebtes zu einem Erlebnis. Mit großem Willen und etwas Glück (oder etwas Willen und großem Glück) schaffe ich es also nach knapp drei Stunden und 18 Kilometern im Surfski als Letzter des Staffelwettbewerbs an den Strand in Are. Auf der kurzen Laufstrecke zur Bootsablage und den anschließenden rund zwei Kilometern zur Wechselzone überhole ich noch zwei oder drei Athleten und Athletinnen und kann so zumindest die Schmach der roten Laterne ansatzweise abwenden. Trotzdem habe ich ein schlechtes Gewissen, als ich unserem neuen schwedischen Freund Oskar den Staffelchip übergebe, damit er die 15 Kilometer über den 1.420 Meter hohen Areskutan rennen und anschließend Felix‘ Freundin Cecilia die 32 Kilometer mit dem Mountainbike zurück nach Are fahren kann (PS: Zu Felix kommen wir gleich noch ausführlich). Schließlich sind wir nicht am ersten Juliwochenende 2017 in den bekannten schwedischen Skiort Are gekommen, um an der Are Extreme Challenge zu scheitern. Um es vorweg zu nehmen: Meine beiden Staffelteammitglieder haben sich auf ihren Teilstrecken weniger schwer getan als ich und das Rennen für uns in einer Gesamtzeit von acht Stunden und elf Minuten ins Ziel auf dem kleinen Marktplatz in Are gebracht.
Multisport-Event mit einer Prise Abenteuer
Es gibt mehrere Möglichkeiten, um an der Are Extreme Challenge, die gleichzeitig noch den Open European Championship Titel vergibt, teilzunehmen.
- RIVER CLASS SOLO: Das ist die Königsklasse. Hier absolviert der Einzelsportler den ganzen Kurs alleine, also 25 Kilometer Flusspaddeln mit Stromschnellen der Kategorie II und auf dem See, 15 Kilometer Trailrunning über den Mt. Areskutan und 32 Kilometer Mountainbiking zurück nach Are.
- LAKE CLASS SOLO: Auch hier absolviert der Einzelsportler den ganzen Kurs alleine, muss aber nur 18 Kilometer auf dem See paddeln (also ohne Stromschnellen) und 15 Kilometer Trailrunning über den Mt. Areskutan sowie 32 Kilometer Mountainbiking zurück nach Are absolvieren.
- LAKE CLASS DUO: Ein Team aus zwei Sportlern (Männer/Frauen/Mix) absolviert den ganzen Kurs gemeinsam – 18 Kilometer auf dem See paddeln (also ohne Stromschnellen), 15 Kilometer Trailrunning über den Mt. Areskutan und 32 Kilometer Mountainbiking zurück nach Are.
- LAKE CLASS TEAM RELAY: Ein Team bestehend aus einem Kajaker, einem Trailrunner und einem Mountainbiker (Männer/Frauen/Mix) absolviert den ganzen Kurs als Staffel – der Kajaker paddelt die 18 Kilometer auf dem See, der Trailrunner läuft die 15 Kilometer über den Mt. Areskutan und der Mountainbiker fährt die 32 Kilometer Mountainbiking zurück nach Are.
Während wir uns wie beschrieben für die „Einsteiger-Variante“ Lake Class Team Relay entschieden hatten, nahm besagter Felix nach 2016 zum zweiten Mal an der „Königsklasse“ River Class Solo teil. Allerdings musste auch er 2017 auf die von ihm sehr geliebte Flusspaddelsektion verzichten, da Hochwasser diesen Abschnitt zu gefährlich machte und die Renndirektion kurzfristig entschied, mit der Paddelsektion im Interesse der Gesundheit der Athleten komplett auf den See auszuweichen. Felix benötigte bei seiner ersten AEC-Teilnahme übrigens sieben Stunden und neun Minuten. 2017 war er sogar eine gute halbe Stunde schneller, wobei hier die Paddelstrecke wie gesagt etwas anders war. Die Schnellsten schaffen es übrigens in fünf Stunden. Zur Erinnerung: Wir haben zu Dritt als Staffel mehr als acht Stunden gebraucht. Deshalb habe ich Felix um ein kleines Interview mit ein paar Insider-Informationen gebeten.
St. Bergweh: Du hast nach 2016 im vergangenen Jahr zum zweiten Mal an der AEC teilgenommen. Wann war Dir klar, dass Du wieder nach Are kommen wirst?
Felix Dimigen: Ich glaube, die Entscheidung ist irgendwie schon während des Rennens gefallen – es hat wahnsinnig Spaß gemacht. Aber ich merkte auch, dass ich den einen oder anderen Fehler gemacht hatte und es daher unbedingt noch ein zweites Mal würde angehen müssen.
Worin liegt denn für Dich der Reiz dieses Rennens?
Das sind viele Dinge: Zum einen ist es die phantastische Strecke in sehr wilder und rauer skandinavischer Natur. Dann ist es auf jeden Fall die einzigartige Vielfältigkeit der Anforderungen, die diese Strecke an die eigene Physis und Psyche stellt. Und nicht zuletzt sind es sicher der ganz besondere Spirit des Rennens und die tolle Stimmung, die allgemein bei Rennen in Schweden zu beobachten ist.
Stichwort Physis: Welchen Fitnesszustand und welche Fertigkeiten braucht man, um Deiner Meinung nach beim AEC antreten zu können und Spaß zu haben oder gar erfolgreich zu sein?
Um in der Solo-Klasse das Ziel zu erreichen, sollte man ein recht vielseitiger Outdoor-Sportler sein und die Kondition haben, sieben bis zehn Stunden am Stück unterwegs zu sein. Was die Vielseitigkeit angeht: Im Paddeln sollte man gut genug im Boot sitzen, damit man in den Stromschnellen nicht kentert oder aber durch ein allzu stabiles und langsames Boot zu viel Zeit verliert. Beim Laufen muss man sich vergegenwärtigen, dass man nicht nur 1.000 Höhenmeter hoch, sondern auch durch ziemlich schwieriges Terrain wieder runter laufen muss. Das Mountainbiken ist nicht allzu technisch, aber man sollte nicht zum ersten Mal auf dem Bike sitzen.
Wie hast Du Dich auf die AEC 2017 vorbereitet?
Da ich sowieso laufe, paddele und Mountainbike fahre, habe ich von allem etwas mehr gemacht und mir dann immer längere Trainingseinheiten zusammengestellt, bei denen ich jeweils zwei Sportarten nacheinander trainiert habe – also Paddeln und Laufen oder Laufen und Biken.
Und wie war die AEC 2017 für Dich – auch im Vergleich zu 2016?
Dadurch, dass es mein zweites Rennen war, wusste ich natürlich, was mich erwartet. Außerdem war ich auch noch etwas besser vorbereitet und konnte das Rennen und die fantastische Bikestrecke bis zum Ende genießen, statt mich nur irgendwie ins Ziel zu kämpfen. Und außerdem hatten wir 2017 phantastisches Wetter und tolle Stimmung bei der Ankunft auf dem Marktplatz in Are!
Klingt gut. Hast Du Trainingstipps für AEC Debütanten?
Ganz grundsätzlich kann ich aufgrund meiner Erfahrungen der letzten beiden Jahre nur sagen: Lasst euch nicht abschrecken. Mit guter Vorbereitung und moderatem Tempo schafft man es irgendwie ins Ziel und hat ein tolles Erlebnis. Wer es ambitioniert angehen will, sollte üben, in steinigem und sumpfigen Terrain lange abwärts zu laufen. Bei aller Konzentration auf die Aufstiegsmeter übersieht man das leicht.
Und rein organisatorisch: Hast Du da auch Tipps für AEC Debütanten?
Mein erster Tipp für Debütanten wäre, sich vor dem Rennen ein paar Tage zu nehmen, um Strecke und die Bedingungen auszukundschaften, vor allem auf dem Fluss. Und ein Tipp für diejenigen, die nicht mit dem Auto anreisen wollen, wäre, den Veranstalter zu fragen, ob Kajaks gemietet werden können. In diesem Jahr hat der schwedische Verleiher Kajaktiv Kunststoff-Surfski mit Klappsteuer angeboten, die eine sehr gute Lösung sind. Und außerdem wird es 2018 erstmals auch eine Wertungsklasse geben, in der keine Stromschnellen gepaddelt werden müssen. Das sollte es den vielen abenteuerlustigen Ausdauersportlern, die keine langjährigen Paddler sind, leichter machen, teilzunehmen.
Wird man Dich bei der AEC 2018 sehen?
Auf jeden Fall! Ich zähle tatsächlich bereits die Monate!
Ein paar Fakten
In Deutschland ist die Are Extreme Challenge trotz ihrer über 20-jährigen Tradition und dem anhaltenden Hype um Triathlon und Adventure-/Natur-/Tough-Races nahezu unbekannt. Von den etwas über 500 Teilnehmern kam 2017 nur eine Handvoll aus Deutschland – inklusive uns. Naturgemäß kommt der Großteil eher aus Skandinavien. Besonders auffällig und erfreulich war die Beteiligung weiblicher Athleten: Nachdem in den Jahren zuvor bereits ein Fünftel des Teilnehmerfelds Frauen waren, stieg die Quote 2017 auf immerhin 28 Prozent. Klar geht da noch mehr, aber das kann man schon mal hart feiern, dass sich hier langsam was tut. Wer Lust bekommen hat: Die nächste Are Extreme Challenge findet am 30. Juni 2018 statt – fünf Monate Zeit zum Trainieren bleiben also noch. Registrieren kann man sich hier. Falls jemand Felix sieht, grüßt ihn von St. Bergweh.
Tipps zu Anreise und Übernachtung
Option 1: Autoanreise – das ist die beste Möglichkeit, um das eigene Bike und das eigene Kajak/den eigenen Surfski nach Are zu bekommen. Je nachdem, wo man in Deutschland lebt, sind das zwischen 1.500 und 2.300 Auto – plus ggf. Fährkilometer.
Option 2: Die schnellste und bekanntermaßen ökologisch mieseste Anreise kann per Flugzeug realisiert werden. Die nächstgelegenen Flughäfen sind Östersund in Schweden und Trondheim in Norwegen, von wo aus es ein bis knapp zwei Taxi- oder Mietwagenkilometer bis Are sind.
Option 3: Wer etwas mehr Zeit hat, fährt mit dem Zug über Kopenhagen und Stockholm nach Are. Von Hamburg aus wäre das mit einer Zwischenübernachtung in Stockholm in zwei Tagen möglich.
Bezüglich Übernachtung gibt es dieses Jahr ein neues Partnerhotel, von dem man allerdings nicht so einfach zu Fuß ins Stadtzentrum von Are kommt (mind. 10 Autominuten von Are entfernt). Ich war in einer vom Tourismusbüro vermittelten Ferienwohnung von der Skiliftgesellschaft in Are untergebracht. Das Stadtzentrum war in weniger als zehn Minuten zu Fuss zu erreichen und die Unterkunft super geräumig. Klare Empfehlung für Brunkulla. Aber auch AirBnB und sonstige Plattformen bieten zahlreiche Angebote, da Are vorrangig ein Wintersportort mit entsprechend großem Appartementangebot ist.
Tipps zur Ausleihe von Equipment
Wer sein Kajak/Surfski oder Mountainbike nicht mit nach Schweden bringen will oder kann, dem bieten sich diverse Leihmöglichkeiten. Ich hatte ein tolles neuwertiges Surfski von Kajaktiv. Ein gutes Mountainbike kann man sich zum Beispiel direkt beim AEC-Partner Specialized besorgen. Mehr Tipps gibt’s direkt auf der Eventseite.
St. Bergweh Musikvideo
Das obligatorische abschließende Video kommt zwar nicht aus Schweden, aber zumindest aus Skandinavien. Thea Hjelmeland ist meine norwegische Lieblingskünstlerin und verzaubert in diesem Fall auf einer Pariser Dachterrasse die Nachbarn mit ihrer tollen Stimme. Enjoy…
Transparenzhinweis
Dieser Blog wird nicht kommerziell geführt und generiert keine Einnahmen durch Anzeigen oder bezahlte Artikel. Zur Realisierung bestimmter Abenteuer ist deshalb die Unterstützung durch Partner eine große Hilfe. In diesem Fall hat der Veranstalter die Teilnahme am Rennen durch die Übernahme der Teilnahmegebühr sowie das Stellen einer Unterkunft und des Leihsurfskis sowie etwas Hilfe bei der Anreise unterstützt.