Blindtext Überschrift

Ihr müsst mir das einfach glauben. Das ist kein Plagiat der Augsburger Allgemeinen Story, die die letzten Tage erst als Fauxpas der Augsburger Allgemeinen, dann als Fauxpas des Mediendienstes Meedia die Gemüter erregte. Nein, ich hatte diesen Gedanken irgendwo zwischen Muir Pass und Mather Pass auf dem John Muir Trail. Und ich hatte ihn, weil mir gleich fünf Headlines eingefallen sind, um die Eindrücke während meines Hikes durch die John Muir Wilderness und den Kings Canyon National Park zu überschreiben. Keine von ihnen konnte aber all das unter einen Hut bringen, was mir wichtig war und ist.

Wird zum Glück jeden Tag leichter: 18kg Rucksack mit Essen für 8+1 Tage

Bevor ich aber im Detail dazu komme, erst einmal kurz die wichtigsten Fakten zusammengefasst: Instagram Your City Contest gewonnen, die erste Wahl mit Bogota inkl. Hike durch den Sierra Nevada del Cocuy Nationalpark wegen schlechtem Wetter verworfen, für L.A. und den südlichen Teil des John Muir Trails entschieden, am 14. September nach Kalifornien aufgebrochen, am 16. September mit ca. 18 Kilogramm Gepäck auf dem Rücken am Florence Lake losgelaufen, nach acht Tagen, 95 Meilen (ca. 150 Kilometer) und fünf Kilogramm weniger Körpergewicht wieder in der „Zivilisation“ (Cedar Grove) angekommen. That’s it.

Nun also meine erste Überschrift: „I’m (still) alive“
Und die ist gleich doppeldeutig. Denn zum einen (Jeder, der eins und eins zusammenzählen kann, ist in der Lage, das aus diesem Blogpost abzuleiten): Ich bin wieder wohlbehalten zurück aus einer der schönsten und gleichzeitig abgelegensten Regionen der USA (wenn man Alaska mal ausnimmt). Mindestens zwei Tage Fußmarsch lagen im Notfall zwischen mir und dem nächsten Ort oder auch nur einer (mit etwas Glück besetzten) Ranger Blockhütte. Kein Handynetz, natürlich kein Internet und auch keine Bundeswehr-Einzelkämpfer- oder Rüdiger-Nehberg-Survival-Ausbildung vorhanden.

Seltenheit: Andere Wanderer treffen, wie hier auf dem Muir Pass

Gleichzeitig steckt in „I’m (still) alive“ auch der Ausdruck einer intensiven Erfahrung, die ich während der acht Tage gemacht, aber erst im Nachhinein wirklich reflektiert habe. Und Achtung, jetzt mutiere ich zum ungeliebten „Ratgeber in allen Lebenslagen“ (im Zweifel Absatz überspringen): Man entwickelt sich nicht weiter, wenn man nur Dinge tut, die man schon kann, kennt oder mag. Das ist die Bequemlichkeit, in der ich mich zeitweise (und viele andere permanent) sehr schön heimelig eingerichtet habe. Ja keinen zusätzlichen Aufwand betreiben. Ist ja eh alles schon so stressig. Herausforderungen und uns selbst immer wieder in den Allerwertesten treten, das ist es, was zur persönlichen Weiterentwicklung beiträgt und uns die „nächste (Reife-)Stufe“ erklimmen lässt. Insbesondere wir, die verwöhnte Generation, die Generation mit allen Möglichkeiten und gleichzeitig mit allen selbst auferlegten Schranken. Geht raus und seid Mensch! Lernt andere Mitmenschen und Kulturen kennen, nehmt neue Perspektiven ein, schaut über den Tellerrand, seid offen für Neues, tut, was Ihr sonst nie tun würdet. Das ist keine Proklamation für eine Weltreise nach der anderen oder ein Leben als Freigeist und Lebenskünstler – das Leben beginnt bereits spätestens vor der Haustür. Geht einfach nur raus und begegnet allem was Euch über den Weg läuft „open-minded“. Ich verspreche Euch eine besondere Erfahrung und die kann so aussehen: „I’m (still) alive“.

Nr. 2 und 3: „Who cares about Mt. Whitney“ oder „Der Weg ist das Ziel“
Schon klar, Binsenweisheiten zeugen nicht gerade von großer Kreativität und sollten als Überschrift vermieden werden, wenn einem daran gelegen ist, den Leser für den eigentlichen Text zu interessieren. Jemand was dagegen, wenn ich mich einfach mal über diese Regel hinwegsetze? Nein? Danke! Zur Not habe ich ja immer noch die anglistische Variante, die aber auch wieder einigen nicht gefallen wird. Egal, worum geht’s?

Rast am Dollar Lake: Der anstehende Glen Pass (3.596m) ist höher als der Fin Dome (3.420m) im Hintergrund

Eigentlich geht es um eine weitere Regel, gegen die ich verstoßen habe: „Du sollst jede Bergfahrt mit Kopf und Hand sorgfältig vorbereiten,…“. In meinem nicht mehr ganz so jugendlichen Leichtsinn, habe ich bei der Planung der Wanderung den Fehler begangen, nicht nur von Tagestouren im Mittelgebirge auszugehen, sondern auch noch von weniger (und bequemeren) Gepäck. Und ebenfalls nicht berücksichtigt: Unvorhersehbares – irgendetwas Ungeplantes passiert schließlich immer. Der Plan sah vor, am Sonntag (16. September) früh am Morgen mit der Fähre auf die andere Seite des Florence Lake zu fahren und dann die ca. 120 Meilen in acht Tagen anzugehen. Macht Minimum 15 Meilen (ca. 25 Kilometer) am Tag. Die Realität sah dagegen so aus: Am Sonntag erst nach dem Mittag losgekommen, Fähre wegen niedrigem Wasserspiegel eingestellt und damit fünf zusätzliche Meilen, Nachts kaum Schlaf aus Respekt vor Bärenattacken und aufgrund pulsierender Füße, jeden Tag rund 1.000 schmerzende Höhenmeter bergauf und 1.000 ebenso gemeine Höhenmeter bergab auf einem Niveau von ca. 3.000 Meter über n.N. und brennend heißer Wüstensonne, gequälte Muskeln und ein überforderter Rucksack. Und die Einsicht: Viel wichtiger als das Erreichen des gesetzten Ziels, der Mt. Whitney, ist der Genuss der Reise, denn dafür bin ich die 10.000 Kilometer über den Atlantik geflogen. Deshalb stehe ich jetzt hier und sage laut und ohne mich zu schämen: Wenn interessiert schon der Mt. Whitney? Ich hatte acht leidvolle, aber noch viel genussvollere Tage. Umgekehrt fände ich es persönlich weniger wertvoll, aber da mögen sich die Geister scheiden. Und damit habe ich mich auch im Sinne der Bergsteigergebote rehabilitiert, denn da heißt es unter Punkt 1: „…du sollst aber auch, wenn es sein muss, auf das Ziel verzichten und zur rechten Zeit umkehren können. Du sollst dir Zeit lassen und nicht mit dem Minutenzeiger um die Wette laufen und Höchstleistungen aufstellen wollen. Du sollst nicht Gipfel fressen, sollst aber auch nicht der bergsteigerischen Tat in ihrer vielfältigen Form aus dem Wege gehen!“

Überschriftvariante Nr. 4 „Graigslist Joe’s Small Brother“
Ihr kennt craigslist.org? Und kennt Ihr Craigslist Joe, den Typen, der einen Monat lang ohne Geld nur von der Gutmütigkeit der Menschen leben wollte, die er via Craigslist ausfindig gemacht hat (PS: Kleiner Filmtipp – nicht wirklich ein repräsentatives Experiment, aber trotzdem ganz sehenswerte Selbsttest-Doku)? Egal, ich habe mich jedenfalls auf dieser Reise ein wenig wie der kleine Bruder von Craigslist Joe gefühlt. Warum? Hier ein paar Gründe:

Da ist zum Beispiel Kathrin. Eine ehemalige Kommilitonin, die mir in L.A. spontan Schlafplatz, Unterhaltungsprogramm und Hilfe angeboten hat, obwohl wir während unserer gemeinsamen Studienzeit gar nicht wirklich viel miteinander zu tun hatten und mehr als acht Jahre nicht gesehen haben. Oder Ex-Backpacker Steve und seine Frau vom Trading Post Restaurant in Shaver, die mich am Flughafen in Fresno aufgelesen und mir einen wichtigen ersten Hitchhike-Ride zum Shaver Lake gegeben haben. Oder die verrückte Messie-Frau Terra mit ihren Knieschonern über der schwarzen Leggin, ihrem mehr als durchsichtigen Netzhemd, ihren irritierenden Selbstgesprächen und ihrem vermüllten, uralten Chevrolet, der auf halber Strecke zwischen Shaver und Huntington Lake mitten im Wald seinen Geist aufgegeben hat. Oder Jacob, der Marketing Dude vom China Peak Ski Resort, der mich bis nach Huntington Lake mitgenommen hat, nachdem Netzhemd-Sweety mit ihrem Handy einfach im Wald verschwunden ist. Oder Eisenbahn-Pensioner Mike und seine Frau, die mich auf dem Rancheria Campground spontan zum Abendessen und damit zu frisch gefangenem, gegrilltem Fisch eingeladen haben. Oder die permanent Sprüche klopfenden Ex-Militärs Dale, Robert und Jesse, die mich nicht nur bis zum Florence Lake gebracht haben, obwohl sie eigentlich zum 14 Meilen entfernten Edison Lake wollten. Sondern die mich auch noch nach meinem vorzeitigen Exit vom John Muir Trail in Cedar Grove abgeholt, mit mir den Tag verbracht und mich nach Fresno zur Mietwagenstation gefahren haben. Oder der Marketing-Berater und Ex-HSV- sowie St.-Pauli-Hospitant Chris aus L.A., der dafür gesorgt hat, dass ich die Social Media Week Closing Party im Madame Tussauds nicht alleine verbringen musste. Oder Beachvolleyballerin Dodi, die alles stehen und liegen ließ, als sie von meinem Rückflugdebakel gehört hat, um mich irgendwie noch rechtzeitig zum LAX-Airport zu bringen.

Hitchhiking: Dale (nicht im Bild), Jesse und Robert bringen mich nicht nur zum Florence Lake, sondern helfen mir auch später noch einmal

Die Welt könnte nicht nur besser sein, wenn wir uns mehr umeinander kümmern würden. Die Welt ist gut, wenn wir offener und weniger ängstlich aufeinander zu- und miteinander umgehen.

Last, but not least Nr. 5: „Wer bin ich?“
Es gibt da eine Begegnung, die ich auf dem John Muir Trail gemacht habe, die mir so wichtig ist, dass ich ihr einen eigenen Artikel widmen werde. Eine prägende Aussage möchte ich aber schon jetzt mit Euch teilen, weil sie einfach perfekt hierher passt (frei übersetzt): Wenn Du in die Ferne gehst, also in eine für Dich fremde Umgebung und alleine, dann wird die größte Erfahrung, die Du machst, Du selbst sein. Dieser Satz stammt von Nir, einem Israeli, der den gesamten John Muir Trail gegangen ist, also die kompletten 215 Meilen von Yosemite bis Mt. Whitney. Ich durfte mit ihm abschnittweise fünf Tage verbringen. Und ich sage bewusst „durfte“, denn es war eine sehr intensive Begegnung, aber wie gesagt: später mehr.

High Sierra: Viel Zeit zum Nachdenken und viel Platz zum Selbsterfahren

Nur noch einmal auf obigen Satz zurückkommend. In ihm steckt viel Wahrheit. Das beziehe ich nicht nur auf die Wanderung, sondern auch auf frühere Erfahrungen, die ich gemacht habe. Und da schließt sich der Kreis zu Überschriftvariante Nummer 1: Geht raus und „experience yourself“ – Ihr werdet es nicht bereuen.

Update: Das Video zu meinem JMT-Abenteuer ist fertig:

[vimeo http://www.vimeo.com/52790449 w=500&h=281]

St. Bergweh: John Muir Trail 2012 from Bjoern Koecher on Vimeo.