(K)ein Ablassbrief für die Fussball-WM 2022 (in Katar)

Für mich ist die Sache ja klar: Ich finde Organisationen wie die FIFA Scheiße (Korruption, Kommerzialisierung, Scheinheiligkeit etc.). Ich finde das Fußball-Business ingesamt Scheiße (Spielergehälter/Ablösesummen, Spielerberater, TV-Rechte-Abzocke etc.). Und ein bisschen finde ich auch Katar Scheiße (Menschenrechtsverletzungen, Frauenrechte, Homophobie etc.).

Es wird deshalb niemanden überraschen, dass ich mir kein einziges Spiel der Fußball-WM 2022 in Katar anschauen werde. Dabei war Fußball in meiner Kindheit und Jugend mein Leben. Mit Fußball habe ich mir sogar mein halbes Studium finanziert (Grüße gehen raus an die ehemaligen Landesliga-/Oberliga-Teams vom SV 09 Arnstadt und SV Schott Jena). Aber hier geht es nicht um mich, sondern um euch. Ganz konkret um diejenigen unter euch, denen Fußball so viel bedeutet, dass sie auf ihre Fußball-WM nicht verzichten wollen. Hier ist mein Versöhnungsangebot:

Als Johann Tetzel der selbsternannten Religion Fußball biete ich euch einen Ablassbrief an, der eure (Fußball-)Seele aus dem (Fege-)Feuer springen lässt.

Heisst: Ihr könnt jedes WM-Spiel ohne schlechtes Gewissen anschauen. Dafür müsst ihr nur drei Dinge tun:

  1. Ihr trinkt während der WM ausschließlich Bier von Brewdog (oder Überquell)
  2. Ihr kauft euch die aktuelle 11FREUNDE Ausgabe #252 (WM-Sonderheft 2022)
  3. Ihr öffnet mind. 3 der Links unten zu ausgewählten Artikeln, Dokus oder Podcasts

Warum ihr das tun solltet und wie ihr das am besten macht, lest ihr in den drei folgenden Abschnitten.

Eine persönliche Meinung möchte ich vorab aber noch loswerden: Ich habe Katar in der Überschrift ja bewusst in Klammern gesetzt. Denn die WM-Vergabe an Katar ist einfach nur der extra Tropfen, der das (Öl-)Fass zum Überlaufen gebracht hat. Sie ist das fehlende Puzzleteil, das die fiese Fratze der an zahllosen Krebsgeschwüren leidenden Organisation FIFA zeigt – genau wie die vieler der ihr untergeordneten Länderorganisationen und insbesondere einiger ihrer hochrangigen Vertreter (Anm.: Gendern muss man in dem Fall nicht, da es sich ausschließlich um alte Männer handeln dürfte). Denn korrumpiert und bestochen wurde auch von anderen Fußball-Landesverbänden. Menschenrechtsverletzungen existier(t)en auch in anderen Ländern. Und allumfassende Frauenrechte gibt es in einigen WM-Nationen auch erst seit ein paar Jahrzehnten. Katar setzt dem ganzen die Krone auf, das ist klar.

Aber geschaffen haben WIR die Organisation, die die Fußball-WM vergibt. Genau wie WIR das System drumherum ermöglichen, das aus einem tollen Sport für Alle ein globales Business mit unfassbaren Profiten für Wenige gemacht hat.

Kritik an Katar geht nicht ohne Selbstkritik, Demut und der Notwendigkeit von Veränderungen auch bei uns. Alles andere is pure Scheinheiligkeit.

Brewdog: Proud Anti-Sponsor of the World F*Cup

Bier gehört zu Fußball, wie… Keine Ahnung. Stimmt vielleicht gar nicht. Denn klar geht Fußball auch ohne der Volksdroge Alkohol. Aber wenn es schon sein muss, dann doch gerne von einer Firma, die B-Corp zertifiziert ist und damit hohe soziale und Umwelt-Standards erfüllt, die der Atmosphäre nach eigenen Aussagen fast doppelt so viel Kohlenstoff entzieht, wie sie emittiert (durch CO2-Kompensation, ok, aber besser als nichts) und die gerade mit Werbeplakaten wie diesen auf sich aufmerksam macht:

Werbeposter mit zwei Bierflaschen von Brewdog und dem Werbetext: Mailand oder Madrid, Hauptsache nicht (!) Katar. Wir lieben Fußball, Bier und (!) Menschenrechte.
Was macht eigentlich Andy Möller heute – und vor allem wo? (Foto: Brewdog)

Die schottische Craft-Bier-Marke wird nach eigenen Angaben alle Gewinne, die sie während der WM-Spiele in ihren Bars mit den in Deutschland beliebtesten Sorten „Punk IPA“ und „Haze Jane“ oder über alle anderen Vertriebskanäle (z.B. Supermärkte) mit der Sorte „Lost Lager“ generiert, an eine Non-Profit-Organisation für den Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen spenden. Saufen beim Fußball für den guten Zweck, das dürfte doch für einige von euch ein gutes Argument sein. Das komplette Statement von Brewdog Deutschland findet ihr übrigens auf deren LinkedIn-Seite – in ihrem neuesten Post nehmen sie zudem Stellung zu der Kritik, dass sie die Fußballspiele in ihren Bars trotzdem zeigen und während der WM in Katar vor Ort Bier verkaufen und so schlußendlich auch von der WM profitieren.

Ihr trinkt gerne Bier, findet die FIFA, Fußball oder Katar – oder alles zusammen – aber Scheiße? Dann schaut euch doch nach Brauereien wie Überquell in Hamburg um. Die machen nicht nur beim Boykottaufruf #BoycottQatar2022 mit und zeigen deshalb in ihrem Brauhaus-Restaurant am Hafen keines der WM-Spiele (offizielles Statement), sondern haben wirklich leckeres Bier und machen geile Pizzen.

+ + + Ergänzung am 2.12.2022: Brewdog hat – vermutlich vor dem Hintergrund der Recherche-Ergebnisse einer BBC-Dokumentation und einem offenem Brief von Arbeitnehmern, die eine „Kultur der Angst“ beklagen – die B Corp Zertifizierung verloren, wie The Guardian berichtet. Deshalb möchte ich meine Empfehlung diesbezüglich hiermit zurücknehmen. Sorry, dass ichda vorher nicht genauer hingeschaut habe. + + +

11FREUNDE: Cards of Qatar

Das Magazin 11FREUNDE ist eine fußballjournalistische Institution – und gleichzeitig eine Redaktion mit Haltung. Deshalb hat das Team rund um Chefredakteur Philipp Köster eine ganz besondere WM-Sonderausgabe an den Zeitschriftenkiosk gebracht. Eine, die sich nicht nur mit den WM-Teams und den Spielen auseinandersetzt, sondern viel ausführlicher und aus den unterschiedlichsten Perspektiven eben mit der WM-Vergabe und dem Gastgeberland. Die 164 Seiten starke Auflage gibt es seit heute im Zeitschriftenhandel oder hier online zu kaufen.

Cover des Magazins 11FREUNDE Ausgabe #252 – WM-Sonderheft 2022 – mit dem Titel: The Dark Side of Football – WM 2022 in Katar
Cover Ausgabe #252 (Foto: 11FREUNDE)

Das ist aber noch nicht alles, was die 11FREUNDE-Redaktion zum Thema WM in Katar zu sagen hat. Während Panini und selbst REWE kritik-, haltungs- und kreativlos ihre FIFA WM-Sticker und DFB Sammelkarten verticken, als gäbe es die Causa „FIFA & Katar“ gar nicht, launcht 11FREUNDE gemeinsam mit dem schwedischen Magazin BLANKSPOT die Webseite Cards of Qatar. Sie soll den getöteten Arbeitern in Katar (die englische Zeitung The Guardian spricht von 6.500) ein Gesicht geben, indem mit der Einwilligung der Angehörigen einige der gestorbenen Arbeiter als digitale Sammelkarten vorgestellt werden, statt Fußballer. Jeder Klick durch die 66 Karten und Schicksale ist erdrückend.

„Wir präsentieren die Bilder und Schicksale im Look offizieller Sammelkarten, um die Offiziellen daran zu erinnern, unter welch makabren Umständen dieses Turnier stattfindet. Die Mannschaften und die Verbände müssen diese Gesichter sehen und diese Geschichten lesen – und dann endlich handeln. Es wird allerhöchste Zeit.“

Redaktion 11FREUNDE

Die Karten dienen damit auch dem Zweck, eine bereits im Mai 2022 von Amnesty International und weiteren Menschenrechtsgruppen, Fangruppen und Gewerkschaften gestartete weltweite Kampagne (inklusive Petition) zu unterstützen, in der Katar und die FIFA aufgefordert werden, Arbeitsmigrant:innen für die Menschenrechtsverletzungen zu entschädigen, denen sie im Zusammenhang mit der Umsetzung der Fußballweltmeisterschaft ausgesetzt waren und sind. Die Organisationen fordern die FIFA auf, als Entschädigungssumme für die zahlreichen Menschenrechtsverstöße, die seit 2010 begangen wurden, mindestens 440 Millionen Dollar bereitzustellen – das entspräche der Summe der Preisgelder dieser WM.

Die Story zu BLANKSPOTs Cards of Qatar

Ihr findet es richtig, dass die FIFA die Menschen, die durch die Fußball-WM Leid erfahren haben oder das noch tun, entschädigt? Schließlich hat die FIFA und insbesondere einzelne Personen aus dem Umfeld der FIFA von der WM-Vergabe an Katar hart profitiert. Dann dürftet ihr ja auch nichts gegen den folgenden Gedanken haben: Jede*r von euch der/die eines der WM-Spiele schaut, tut dies zur eigenen Unterhaltung – „profitiert“ also in gewisser Weise von der WM in Katar. Alleine das Finale der vergangenen WM in Russland haben laut Angaben der FIFA weltweit 1,12 Milliarden Menschen angeschaut. Wenn nur jeder einzelne von ihnen 0,35 Cent an eine Menschenrechtsorganisation spenden würde, wären auch 440 Millionen Euro zusammen. Vielleicht packt ihr, weil ihr so tolle (und vergleichsweise privilegierte) Menschen seid, den Faktor 100 drauf und spendet noch heute einfach mal 35 Euro an eine entsprechende Organisation. Wie wäre das?

WM 2022 Must reads / sees / hears

Am Sonntag, 20. November 2022, geht es mit dem Eröffnungsspiel zwischen dem Gastgeberland und Ecuador los. Die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar wird also stattfinden, daran lässt sich nichts mehr ändern. Das Ziel Katars, mit der WM das eigene Image aufzupolieren, scheint jedoch nicht aufzugehen – vor allem dank unglaublich vieler mutiger Recherchen und kritischer Berichte von Journalistinnen und Journalisten weltweit. Im Folgenden eine kleine Auswahl, Ergänzungen gerne in den Kommentaren posten. Um den Ablasshandel erfolgreich abzuschließen, müsst ihr aus jeder Rubrik mindestens ein journalistisches Werk lesen, anschauen beziehungsweise anhören.

Empfohlene WM 2022 Artikel

Ihr lest gern. Dann mal los. Hier eine Auswahl an Artikeln rund um die Hinter- oder besser Abgründe der Fußball-WM in Katar. Mindestens einen lesen und der erste von drei Schritten des Wegs aus dem Fegefeuer ist getan.

SRF: Projekt Gnadenlos – Wie Katar in der Schweiz die Fussballwelt ausspionierte: Katar orchestrierte mit Hilfe von Ex-CIA-Agenten jahrelang eine grossangelegte Spionageoperation gegen Fifa-Funktionäre. Die Schweiz war zentral. Höchste katarische Regierungskreise sind involviert. Ein Artikel von Leo Eiholzer und Andreas Schmid.

DER SPIEGEL (Bezahlschranke): Hat Katar die WM gekauft? Wie die Fifa den letzten Rest ihrer Würde in die Wüste jagte: Gier nach Prestige trifft korruptes Gremium: In gut einer Woche beginnt eine Fußball-WM, deren Ausrichtung das Emirat gegen alle Vernunft gewonnen und gegen alle Widerstände verteidigt hat. Die Chronologie eines Sündenfalls. Ein Artikel von Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch und Jens Weinreich.

ARD Tagesschau: PR für Katar in Deutschland – Kritik unerwünscht: Kurz vor der WM präsentiert sich Katar als Wohltäter, mit Spenden auch für das flutgeschädigte Ahrtal. Recherchen von Report Mainz zeigen: Katar wollte dabei Kritik verhindern, dies sogar mit Hilfe von Fußballfunktionären. Ein Artikel von David Meiländer und Anna Stradinger  (SWR).

DIE ZEIT: Warum die WM nicht nach Katar gehört: Katar verletzt Menschenrechte, hat keine Fußballkultur und die Vergabe der Fifa war verdächtig. Die WM nach Katar zu vergeben, war ein Fehler. Ich werde nicht hinfliegen. Eine Kolumne von Philipp Lahm.

Empfohlene WM 2022 Dokumentationen

Noch viel eindrucksvoller und tiefgründiger sind die zahlreichen TV-Dokus zum Thema Fußball-WM in Katar. Lasst mal eine Folge Verbotene Liebe oder Temptation Island weg und schaut Euch dafür lieber eine der hier verlinkten Dokus mehr an als für den Ablassbrief nötig wäre.

ARD Weltspiegel: Katar Inside
ARD Weltspiegel: Katar Inside (Bild verlinkt zur Mediathek)
WDR Serie: Katar – WM der Schande
WDR Serie: Katar – WM der Schande (Bild verlinkt zur Mediathek)
SWR: Katar – Warum nur? mit Thomas Hitzlsperger
Deutsche Telekom: Die WM-Doku: Kein Regenbogen in der Wüste*
ARD: Geld. Macht. Katar.
ARD: Geld. Macht. Katar. (Bild verlinkt zur Mediathek)
ProSieben: "Das Milliardenspiel". Die verkaufte WM
ProSieben: „Das Milliardenspiel“. Die verkaufte WM. (Bild verlinkt zur Mediathek)
SWR: WM der Lügen – Wie die FIFA Katar schönredet
SWR: WM der Lügen – Wie die FIFA Katar schönredet (Bild verlinkt zur Mediathek)
ZDF Sportstudio: Geheimsache Katar: Wie Gier die WM in die Wüste brachte

Empfohlene WM 2022 Podcasts

Auch einige sehr gute Podcasts und sogar ganze Podcast-Serien beschäftigen sich mit der Fußball-WM in Katar. Mindestens einen der Podcasts (egal ob Einzel-Podcast oder eine ganze Podcast-Serie) müsst ihr für euren Fußball-WM-2022-Ablassbrief bis zum Ende hören.

https://open.spotify.com/show/0I70q6h23AYLtFLNVBdQfg?si=ylNvqThJSGGvoOgKr_KZVQ
https://open.spotify.com/episode/7m8euWXf6aEVMrjcam4wpB?si=41HnMbKuQl-f-Njg9b92Nw
https://open.spotify.com/episode/0jfh1UB15YE1AxcaWX0R64?si=6MTKZrjFTsiEDzNE7pipqg
https://open.spotify.com/episode/1WvHBahRThpf3QalQ7hDaL?si=PI8WvjF-Rcild716JnbsGA

Also dann mal los. Ihr könnt damit auch noch anfangen, wenn der FIFA World Cup 2022 schon begonnen hat (oder selbst, wenn er schon vorbei ist). Auch der Fußball-Gott ist reuigen Sünder:innen gnädig, das hat er mir versprochen.

St. Bergweh Musikvideo

Das obligatorische ST. BERGWEH Musikvideo, das traditionell jeden Blogbeitrag abschließt, findet man in einer etwas anderen Version bereits unter einem anderen meiner Artikel. Da der Song aber einfach stark, die Live-Version genial ist und mit Kae Tempest (ehemals bekannt als Kate Tempest) eine sich selbst als queer definierende Person in diesem Fall sehr gut passt, bekommt ihr den Song hiermit nochmal auf die Ohren.

Kae Tempest – Europe is lost (Live im Kex-Hostel Reykjavik)

Ach da fällt mir noch ein

Falls dieser Artikel im Medienspiegel der PR-Agenturen von Katar oder einem der WM-Sponsoren Budweiser, Hisense, Mc Donalds und Vivo beziehungsweise der FIFA-Sponsoren Adidas, Coca-Cola, Wanda Group, Hyundai / Kia, Qatar Airways und Visa landen sollte, eine kurze Ausfüllhilfe für eure Auswertung:

  • Reichweite: irgendwas zwischen 1 und 100 Million Page Impressions pro Monat (prüft sowieso niemand)
  • Anzeigenäquivalenzwert: unbezahlbar (das dürften die Kolleg:innen von Visa besonders witzig finden)
  • Sentiment: negativ (aber schlechte PR ist ja bekanntlich besser, als gar keine PR, haha…)

PS: Eure (fehlende) Haltung ist für’n Arsch!

* Hinweis: Ich habe eine berufliche Geschäftsbeziehung mit der Deutschen Telekom. Diese steht aber in keinerlei Zusammenhang mit diesem Artikel und der Verlinkung ihrer Dokumentation. Im Gegenteil: Ich habe bereits öffentlich Kritik daran geäußert, dass es meiner Meinung nach nicht zu den vermittelten Werten der Telekom passt, Spiele der Fußball-WM in Katar über ihr Magenta TV Angebot zu streamen. Dass die Telekom aber eine so umfassende Dokumentation produzieren lassen hat, zeigt aber auch, dass sich die Verantwortlichen dieser Problematik zumindest bewusst zu sein scheinen.