Keine Freiheit ohne Risiko

Wir schließen unsere Wohnungen zwei Mal ab. Haben eine Versicherung für den Fall einer Berufsunfähigkeit, eines Reiserücktritts oder eines Wasserschadens. Und sind seit mindestens zehn Jahren Mitglied beim ADAC. Wir heften jedes Dokument sorgfältig in Leitz-Ordnern ab, nachdem wir es eingescannt haben. Bauen Zäune um unsere Häuser. Und schließen Riesterverträge ab. Das Ende vom Lied: Wir ersticken förmlich in den ganzen Netzen und doppelten Böden, mit denen wir unser Leben ausgestattet haben. Denn dieser ganze Absicherungswahn hat einen Preis und der heißt: Freiheit.

Kleiner Mensch in großer Natur
Kleiner Mensch in großer Natur

Um dem zu entfliehen, suchen immer mehr Menschen das Abenteuer, den Thrill, das Risiko. Ganz bewusst, denn es gibt uns ein intensiveres Lebensgefühl – zum Teil das Gefühl, überhaupt zu leben. Die Verantwortung liegt komplett bei uns. Kein Netz. Kein doppelter Boden. Ich stelle den Wunsch danach bei mir fest, aber auch bei vielen anderen – natürlich bei weitem nicht bei allen, aber eben bei zunehmend vielen. Man könnte also fast von einem Trend reden. Ich könnte einige Beispiele dafür nennen, nehme aber mal eins raus: Freeriden und Touren gehen, also Snowboard oder Ski fahren abseits präparierter Pisten und lawinengeschützter Hänge. Nach meinem persönlichen Empfinden gibt es immer mehr Wintersportler, die sich bewusst ins freie Gelände begeben und für einen Moment der Freiheit, das Risiko eines – im schlimmsten Fall tödlichen – Unfalls in Kauf nehmen. (Exkurs: Paradoxerweise boomt aber auch da schon wieder das Geschäft mit dem Risikominimieren und Absichern, z.B. mit dem wachsenden Angebot an Rucksäcken mit Lawinenairbags oder Spezialkarten für Freeride-Gebiete. Die Bereitschaft, Zeit und Aufmerksamkeit in den Aufbau von Wissen und Erfahrungen zu stecken, hält sich jedoch in Grenzen.)

Step by Step
Step by Step

Vor knapp zwei Jahren habe ich an einem Lawinencamp der österreichischen Initiative SAAC teilgenommen, um meine bis dahin eher unbedarften (oder besser unbedachten) Ausflüge mit dem Snowboard ins freie Gelände zukünftig besser planen und potentielle Gefahren besser einschätzen zu können. Meinen Erfahrungsbericht vom Camp im selbsternannten und tatsächlich absolut empfehlenswerten „Freeride-Eldorado“ Warth-Schröcken am Arlberg findet ihr hier. Die anderthalbtägigen SAAC Basic Camps in verschiedenen Wintersportgebieten in den Alpen sind dank zahlreicher Partner kostenfrei und entsprechend beliebt. Die Plätze sind oft nach wenigen Stunden bereits ausgebucht. Heute Nacht (14. auf 15. Oktober 2015 um Mitternacht) wird das Anmeldeportal freigeschaltet. Ich selbst werde versuchen, gemeinsam mit ein paar Hamburger Tiefschneejunkies zur Auffrischung einen Platz Ende Januar in Nauders zu bekommen. Vielleicht sieht man sich ja beim Orten oder Sondieren. Alternativ bietet übrigens der Bergsportausrüster Ortovox unter dem Namen Safety Academy ebenfalls Lawinencamps an. Die Einstiegstrainings kosten 59 EUR. Nachwuchsfreerider im Alter zwischen 14 und 18 Jahren können sich auch das Angebot von freeridecamps.at anschauen, die ebenfalls kostenlose, zwei- bis dreitägige Camps anbieten.

Earn your ride
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Ich habe zum Thema Freeride-/Touren-Trend und Risiko durch Lawinen bereits im vergangenen Jahr mit drei ungemein interessanten Personen gesprochen: Katharina Kestler, Redakteurin beim BR-Actionsportmagazin Puls Playground, Lucky Rauscher, Geschäftsführung SAAC snow & alpine awareness camps, und Thomas Übelher, Verkauf & Marketing Skilifte Warth GmbH & Co KG:

STB: Man hat das Gefühl, Freeriden bzw. Tourengehen wird immer beliebter? Seht ihr das ähnlich?

Katharina: Auf jeden Fall – ist auch kein Wunder. Skigebiete, Autofirmen und andere, die irgendwas verkaufen wollen, werben ja schon immer mit dem Skifahrer im unverspurten Schnee. Freiheit und so weiter – das spricht alle an, das würde jeder gern können. Die Gebiete machen es einem ja auch Immer leichter einen Zugang zu dem Sport zu finden und es ausprobieren zu können. Allerdings sind auch die Begriffe Freeriden und Tourengehen sehr dehnbar: Für den einen ist es schon neben der Liftspur auf und ab eiern, für den anderen ganz was anderes.

Lucky: Dem stimme ich absolut zu. Hatten wir am Beginn unserer Camps, also vor mittlerweile 18 Jahren, 100 bis 200 Anmeldungen pro Winter, waren es in den letzten Jahren über 8.500 Bewerber und Bewerberinnen, die an einem SAAC Camp teilnehmen wollten.

Thomas: Konkrete Zahlen liegen uns keine vor. Warth-Schröcken hat sich jedoch als Freeride-Eldorado entwickelt. Mit durchschnittlich 11 Meter Neuschnee pro Jahr, der Höhenlage und dem optimalen Gelände finden sich in Warth-Schröcken ideale Bedingungen für Freerider. Wir bauen unsere Angebote im Freeride-Bereich auch ständig aus – so bieten wir einzigartige Freeride-Touren wie die „Pfarrer Müller Tour“ oder seit über zehn Jahren die Safety Camps mit SAAC. Zudem haben wir kostenlose LVS-Trainingscenter installiert.

STB: Thomas, wie geht ihr mit der Gefahr um, dass durch das zunehmende Fahren abseits der Piste Lawinenunfälle ausgelöst werden?

Thomas: Dies können wir für Warth-Schröcken nicht bestätigen. Unser Ansatz war und ist, die Gäste für die Gefahren abseits der Pisten zu sensibilisieren und somit an ihre Eigenverantwortlichkeit zu appellieren. Wichtig ist, dass sich jeder, der abseits der Pisten unterwegs ist, über die alpinen Gefahren bewusst ist, diese einschätzen kann und vor allem niemals ohne das notwendige Safety-Material unterwegs ist.

STB: Lucky, glaubst du, der Besuch eines SAAC Camps reicht aus, um für eine derartige Situation gewappnet zu sein?

Lucky: Es ist zumindest ein erster Schritt, um sich der alpinen Gefahr etwas mehr bewusst zu werden. Unser primäres Ziel und Hauptinhalt der Camps ist die Vermeidung von Unfällen. Zusätzlich bekommt man ein grobes Handwerkzeug in die Hand, was im „Fall der Fälle“ zu tun ist. Da die Materie der Lawinenkunde ein sehr komplexes Thema ist, schützt der Besuch eines SAAC Camps leider nicht zu 100 Prozent vor einem Lawinenunfall.

STB: Katharina, du warst ja mit mir beim dreitägigen Fortgeschrittenenkurs SAAC 2nd Step. Reicht der Besuch eines Lawinencamps aus, um sich im freien Gelände sicher oder zumindest sicherer zu bewegen?

Katharina: Nein. Ich mache jede Saison einen Lawinenkurs oder was vergleichbares – schon allein, weil man viel vergisst. Ich lese Bücher zum Thema und glaube, dass man unfassbar viel Erfahrung braucht. Ich fühle mich mittlerweile ganz gut und stelle auch ab und an fest, dass ich eine ganz gute Geländeeinschätzung habe. Aber ganz sicher ist man nie.

STB: Du warst die einzige Frau beim 2nd Step Camp. Was ist da los bei euch Mädels?

Katharina: In dem Moment, in dem ich zu spät in die Runde geplatzt bin, dachte ich mir erstmal: Ups. Und ich hatte sofort Angst, ob ich mithalten kann. Ich bin ehrlicherweise nicht davon ausgegangen, dass ich die Einzige bin. Ich dachte, dass zumindest jemand seine Freundin dabei hat. Ehrlich gesagt, hatte ich bis dahin nicht den Eindruck, als wäre Freeriden so eine Männer-Domäne. Ich finde, man sieht schon immer wieder Mädels, die was drauf haben. Wenn ich allerdings ein wenig länger darüber nachdenke, fällt mir auf, dass ich persönlich aber kaum jemanden kenne. Ich habe genau EINE Freundin, mit der ich regelmäßig Ski fahre und Touren gehe, die ich bei einem Women’s Freeride Camp kennengelernt habe.
Ich glaube, gerade beim Freeriden und Tourengehen verlassen sich Frauen gerne auf die meist erfahreneren Typen in der Gruppe. Irgendwo ja auch verständlich, hab ich am Anfang auch so gemacht. Irgendwer, der eine Ahnung hat oder vorgibt, diese zu haben, nimmt meistens das Heft in die Hand und sagt an, wo wie aufgestiegen oder abgefahren wird – und gibt dann gerne für die Schwächeren in der Gruppe eine Einschätzung ab, ob sie das schaffen oder nicht. Zwar braucht man ja jemanden, der einen motiviert auch an seine Grenzen zu gehen, aber: Ich wollte das nicht mehr ab einem gewissen Punkt. Ich möchte meine Entscheidungen gerne alleine für mich treffen können. Ich möchte mich wohlfühlen und wissen, ob es richtig ist, dem Gruppenleader jetzt hinterherzufahren. Ich verlasse mich einfach nicht gern auf andere – oder nur dann, wenn ich weiß, dass sie es verdient haben. Außerdem möchte ich als gleichwertiges Mitglied einer Gruppe wahr- und ernstgenommen werden.

STB: Lucky, wie siehst du das aus Sicht des Ausrichters. War das eine Ausnahme? Und wie schaut die Alters- und Geschlechterverteilung bei euren Camps aus?

Lucky: An einem SAAC Camp kann man ab 14 Jahren teilnehmen. Das Alter der interessierten Teilnehmer und Teilnehmerinnen geht aber hinauf bis über 65. Der Rekord liegt bis jetzt bei 78 Jahren. Geschlechtermäßig ist es immer noch so, dass ca. zwei Drittel der Teilnehmer männlich und nur ca. ein Drittel weiblich sind. Um dem etwas entgegen zu wirken, veranstalten wir seit einigen Jahren die sogenannten „Girl Power Camps“, bei denen weibliche Teilnehmerinnen durch staatlich geprüfte Bergführerinnen über alpine Gefahren informiert werden. Wie Katharina schon sagt: Unser Ziel ist es, dass sich Frauen am Berg nicht zu sehr auf ihre männlichen Begleiter verlassen, sondern sich in der Lage fühlen, eigene Entscheidungen treffen zu können.

STB: Lucky, zum Abschluss noch die Frage: Was empfiehlst du Neueinsteigern, die das Freeriden oder Touren gehen für sich entdeckt haben?

Lucky: Bevor jemand das erste Mal abseits der gesicherten Pisten unterwegs ist, sollte er oder sie sich unbedingt über die jeweiligen Gefahren und deren mögliche Prävention informieren. Da bietet SAAC mit Hilfe seiner Partner, also den jeweiligen Bergbahnen, Tourismusverbänden, Wirtschaftspartnern, Medienpartnern und der öffentlichen Hand, mit den SAAC Basic Camps eine sehr gute und kostenlose Möglichkeit, sich erste Informationen darüber zu holen. Und auch „alte Freeride- und Skitourenhasen“ sollten sich von Zeit zu Zeit über die neuesten Entwicklungen wie zum Beispiel beim Material und dem Notfallmanagement informieren und an einem SAAC Basic oder 2nd Step Camp teilnehmen.

STB: Danke für eure ausführlichen Antworten und alle dran denken: Nur ein alter Freerider ist ein guter Freerider.

Das heutige St. Bergweh Musikvideo ist eigentlich kein richtiges, aber irgendwie schon. Viel Spaß mit Lou Reed und „Perfect Day“:

https://vimeo.com/136389706