Meinungsperspektiven-Overdose – anders kann ich es gar nicht umschreiben, was da mit mir passierte, als ich letzten Donnerstag spät Abends vor meinem geöffnetem WordPress-Account saß. Denn am Nachmittag, während ich mich im Seminarraum der Quadriga Hochschule in Berlin mit dem Konzept des Strategischen Hauses beschäftigte, entrüstet sich mal wieder ein Teil der Netzgemeinde. Und ich wollte dazu unbedingt meine Meinung sagen. Denn ich fühlte mich einen Moment lang persönlich angegriffen. Wollte einen Gegenartikel schreiben. Erst sarkastisch, dann emotional, dann selbstreflektierend, dann ganz distanziert. Oder sollte ich es lieber aus Sicht des Social Media Beraters betrachten? Oder nur die Geschehnisse für die digitale Nachwelt dokumentieren? Nach mehreren Ansätzen packte ich den Laptop genervt weg und schrieb gar nichts. Und das alles nur wegen Brigitte! Ja, Brigitte oder besser Bianka von Brigitte, der Frauenzeitschrift aus dem Verlagshaus Gruner+Jahr. Denn Bianka Echtermeyer, Brigitte-Redakteurin und genervt von Skateboard fahrenden, vermeintlich erwachsenen Männern, veröffentlichte auf brigitte.de einen eher mageren Ansatz einer Glosse:
Nun versuche ich es also mit etwas Abstand noch einmal und habe mich dazu entschieden, einfach mal zusammenzufassen, was wir meiner Meinung nach aus der ganzen Aktion lernen können:
1. Dem Netz fehlt es an Moral und Anstand
Nicht, dass das in der realen Welt so viel anders wäre. Aber was sich da an üblen Beschimpfungen, beleidigenden Äußerungen, persönlichen Drohungen etc. über der jungen Autorin ergossen hat, ist aus meiner persönlichen Sicht beschämend und aus gesellschaftlicher beängstigend. Die Beleidigungen in den mittlerweile über 2.140 Kommentaren unter dem Artikel gehen von vergleichsweise harmlosen „Dumme Hure“ bis „SUCK MY BIG HAIRY DONKEYBALLS YOU NAZIWHORE!!!!“. Sogar Morddrohungen soll es gegeben haben, berichtet stern.de Redakteur Niels Kruse in einem offenen Brief. Da sind kreative Brigitte-Cover-Adaptionen, wie auf der mittlerweile 3.000 Fans zählenden Facebook Seite „We love Bianka Echtermeyer“ nur spärlich zu finden oder spontane T-Shirt-Kreationen mit dem Aufdruck „too old to skate“ leider die Ausnahmen. Gleiches gilt für sachliche Gegenargumentationen – und wenn, scheinen gerade diese von den eigentlich Angesprochenen zu kommen, den „vermeintlich erwachsenen“ Männern 25+, zum Beispiel von Philipp Jung auf dem Blog filmriss.de oder von Flo Hauck auf welikethat.de.
Man darf gespannt sein, inwiefern die (vermeintliche) Anonymität des Netzes zu einer Verrohung der Gesellschaft führen wird: in einem Raum, in dem Bedrohungen und üble Beschimpfungen oft ungeahndet bleiben, in dem menschliche Reaktionen auf derartige Angriffe nicht mehr direkt wahrgenommen werden und in dem Recht und Unrecht scheinbar anders definiert werden. Beispiele zu „Cyber-Mobbing“ und öffentlichen Verunglimpfungen im Netz gab es ja schon zur Genüge.
Update 5.12.2012, 13.30 Uhr:
In der gleichen Nacht wie ich schrieb Sascha Lobo einen passenden Artikel in seiner spiegel.de Kolumne.
2. Mediennutzung statt Mathe
Was Bianka Echtermeyer jetzt schmerzlich erleben musste, kann Jeden treffen – je offener man im Netz ist, umso härter. Denn so schön diese Offenheit mit den eigenen Meinungen und Informationen über sich in guten Zeiten und mit anständigen Mitmenschen ist, so bedrohlich ist sie, wenn man sich Feinde gemacht hat. Von Bianka Echtermeyer gibt es Bilder im Netz, sie hat eine eigene Facebook-Seite und hat(te) einen Pinterest Account – alles einfach zu finden. Bei mir selbst ist das ja noch viel schlimmer.
[youtube http://www.youtube.com/watch?v=NQtMxDsC8S0?rel=0&w=640&h=360]
Es stellt sich aber die Frage, ob es nicht an der Zeit ist, dass der Umgang mit den Medien, gerade den digitalen, mittlerweile nicht eine so wichtige, teils existenzbedrohende Kompetenz geworden ist, dass er Teil unseres Bildungs- und damit Schulsystems werden müsste? Wie macht man den Menschen bewusst, was diese Offenheit im Netz bedeutet und was man damit riskiert. Naja… und Mathe mochte ich sowieso nie so richtig.
3. Quo vadis Journalismus?
Dass der Artikel kein journalistisches Meisterwerk ist, erkennt glaube ich jeder. Das Thema hätte man wunderbar in einer pointierten Glosse abarbeiten können. Herausgekommen ist ein lahmer Kommentar einer streitbaren Meinung, wie er auf Portalen wie brigitte.de leider mittlerweile die Regel statt die Ausnahme ist. Und wäre das Thema ein anderes gewesen, wäre der Beitrag zu Recht unbeachtet im digitalen Nirvana verschwunden. Es ist also zu wünschen, dass der journalistische Nachwuchs wieder mehr Leidenschaft für die eigene Arbeit entwickelt. Und sollten Sparzwänge in den Verlagshäusern oder fehlende bzw. schlechte Ausbildungswege der Grund am Discount-Journalismus sein, dann kann ich nur raten: Kündigen und was machen, worin man aufgeht und was man gut kann. Dann ist allen geholfen.
Und für die Medien sehe ich an der Stelle schwarz. Das, was einige Medien da abliefern, ist das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt ist. Und die „Medienkrise“ wird sich sicher nicht dadurch lösen lassen, möglichst kostengünstig (also mit weniger, jüngeren und tariflich ausgegliederten Mitarbeitern) zu produzieren. Das gibt es im Netz zur Genüge und kostenfrei. Qualität und ein USP müssen her. Ansonsten sage ich schon mal gute Nacht. Und selbst das ist noch nicht einmal eine Garantie, wie man aktuell am Untergang der Financial Times Deutschland (FTD) oder der Frankfurter Rundschau (FR) sieht, sondern nur die minimale Voraussetzung. So, wie in den letzten Jahrzehnten eine Zeitschrift nach der anderen an den Kiosk kam, so verschwinden sie jetzt halt wieder. Das ist der Lauf der Zeit und das Prinzip des von uns gewählten Wirtschaftssystems.
4. Ein Shitstorm könnte so einfach sein
Er lässt sich nicht verhindern, wenn er einmal da ist, aber man kann unterschiedlich erfolgreich mit ihm umgehen und ihn entweder weiter anheizen oder abschwächen. Eine Regel die in den unzähligen Social Media Krisen-Tipps immer unter den Top-3 ist, scheint jedoch bis dato nicht zur Brigitte-Redaktion durchgedrungen zu sein: Lösche niemals den Anlass oder auch nur Teile der Diskussion, außer sie verstoßen gegen Recht, Gesetz oder die „Hausordnung“ der Plattform. Es gab schon so viele Beispiele, dass man denken könnte, jeder wüsste das – scheint aber nicht so zu sein.
Dabei gab es auch schon gute Beispiele, selbst im Zusammenhang mit Brigitte – allerdings einer „echten“ Brigitte, der vom Otto Modelcontest. Die Otto Group reagierte souverän und schnell, indem sie Brigitte weder vom Wettbewerb ausschloss noch den Wettbewerb vorzeitig beendete – so gewannen die Hamburger die Herzen der Netzgemeinde. Oder die ING-DiBa und ihr Vegetarier-Shitstorm auf Facebook, nachdem Basketball-Star Dirk Nowitzki es sich erlaubte, in einem TV-Spot der Bank beim Metzger seines Vertrauens ein Stück Wurst zu probieren: Sie ließen die Diskussion einige Zeit zu, bekamen Unterstützung von den eigenen Fans und konnten bald die Diskussion auf ihrer Facebook-Seite beenden.
5. St. Pauli ist dem Untergang geweiht
Na gut, das ist jetzt nichts Neues, der Untergang St. Paulis ist unausweichlich: Durch die Umformung des Viertels zu einem hippen Stadtteil stirb bald der Charme der ausgebrannten Straßenzüge. Und gäbe es die städtebauliche Neuausrichtung nicht, wäre das Viertel irgendwann in Dreck und Alkohol ersoffen. Eine Rettung ist also nicht in Sicht. Und jetzt kommt auch noch diese Bianka direkt aus dem schicken Eppendorf mit all ihren Aggressionen… Wieso sich die nur angestaut haben???
Mal ganz ehrlich liebe Bianka: Wo hast Du denn jemals einen Ü25-Skater mit schräger Pony-Frisur gesehen? Die Typen hier bei „I am a Skateboarder“ sehen doch eigentlich ganz cool aus?! Und selbst wenn: Schräge Frisuren (und Charaktere) gehören nun mal zu St. Pauli. Leute wie Du sind dagegen fehl am Platz wie die leerstehenden Bürotürme. Und nach der Party von letzter Nacht riecht ganz St. Pauli – daran solltest Du Dich schnellstmöglich gewöhnen.
Kommen wir zum Schluss zu Deinem wohl wirklich sinnfreiesten Argument: Skateboards passen „…nicht zu Menschen, die selbst Steuern zahlen und beim Orthopäden in Behandlung sind“: Leider kapiere ich die Zusammenhänge noch immer nicht – scheinbar habe ich das Brett nicht nur unter den Füßen, sondern auch noch vorm Kopf, während Du zusätzlich auf meiner langen Leitung stehst. Trete einfach mal einen Schritt zur Seite – dann stehst Du zum einen nämlich nicht mehr auf meiner Leitung und hast gleichzeitig die Gelegenheit, mal mit etwas Abstand auf die Sache zu schauen. Dann fällt Dir vielleicht auf, wie engstirnig Deine Denkweise ist. Wenn Du eher auf Männer über 30 stehst, die gern schnelle Autos fahren, Fußball spielen oder auf Bäume klettern, um sich auszutoben, statt mit dem Skateboard durch die Straßen zu fahren, dann ist das voll und ganz Dir überlassen. Nur wenn Du Dich als Journalistin fühlst und ein Thema angehst, in dem so viel Leidenschaft und Lebensgefühl steckt, dann schreibe das nächste Mal bitte einen lesenswerten Artikel: einen mit Inhalt oder mit Humor, einen sachlichen oder einen wortgewaltigen, einen mit Leidenschaft oder aus vollster Überzeugung. Dann verstehst Du vielleicht die Skate-/Longboarder da draußen auch ein wenig mehr, denn das Brett mit den vier Rollen ist ihre Leidenschaft und sie tun was sie tun aus vollster Überzeugung. Wer hat mehr vom Leben? Du oder Sie?
Und wo wir gerade beim Thema Skaten sind: Film anschauen und Aktion unterstützen: http://de.skateistan.org/
Mehr zum Thema Longboarden und Lifestyle hier…
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